DÄDALUS UND IKARUS
<![if !supportLists]>I.<![endif]>Text (Met. 8, 183-235)
<![if !supportLists]>II.<![endif]>Übersetzung
<![if !supportLists]>III.<![endif]>Meister Dädalus undDichter Ovid
Textstrukturen
Zahlenwerte
I. TEXT
1. Daedalus interea Creten longumque perosus
2. exilium tactusque loci natalisamore
3. clausus erat pelago. terraslicet inquit et undas
4. obstruat: at caelum certepatet; ibimus illac:
5. omnia possideat, non possidetaera Minos.
6. dixit et ignotas animum dimittit in artes
7. naturamque novat. nam ponit inordine pennas
8. a minima coeptas, longambreviore sequenti,
9. ut clivo crevisse putes: sicrustica quondam
10. fistula disparibus paulatimsurgit avenis;
11. tum lino medias et ceris adligatimas
12. atque ita conpositas parvocurvamine flectit,
13. ut veras imitetur aves. puerIcarus una
14. stabat et, ignarus sua setractare pericla,
15. ore renidenti modo, quas vagamoverat aura,
16. captabat plumas, flavam modopollice ceram
17. mollibat lusuque suo mirabilepatris
18. inpediebat opus. postquam manusultima coepto
19. inposita est, geminas opifex libravit in alas
20. ipse suum corpus motaquepependit in aura.
21. instruit et natum medioque ut limite curras,
22. Icare, ait moneo, ne, sidemissior ibis,
23. unda gravet pennas, si celsior,ignis adurat:
24. inter utrumque vola. nec tespectare Booten
25. aut Helicen iubeo strictumqueOrionis ensem:
26. me duce carpe viam! pariterpraecepta volandi
27. tradit et ignotas umerisaccommodat alas.
28. inter opus monitusque genae maduere seniles,
29. et patriae tremuere manus; deditoscula nato
30. non iterum repetenda suopennisque levatus
31. ante volat comitique timet,velut ales, ab alto
32. quae teneram prolem produxit inaera nido,
33. hortaturque sequi damnosasqueerudit artes
34. et movet ipse suas et natirespicit alas.
35. hos aliquis tremula dum captat harundinepisces,
36. aut pastor baculo stivave innixus arator
37. vidit et obstipuit, quiqueaethera carpere possent,
38. credidit esse deos. et iamIunonia laeva
39. parte Samos (fuerant DelosqueParosque relictae)
40. dextra Lebinthos erat fecundaquemelle Calymne,
41. cum puer audaci coepit gauderevolatu
42. deseruitque ducem caeliquecupidine tractus
43. altius egit iter. rapidi viciniasolis
44. mollit odoratas, pennarumvincula, ceras;
45. tabuerant cerae: nudos quatit illelacertos,
46. remigioque carens non ullaspercipit auras,
47. oraque caerulea patriumclamantia nomen
48. excipiuntur aqua, quae nomentraxit ab illo.
49. at pater infelix, nec iam pater, Icare,dixit,
50. Icare, dixit ubi es? qua teregione requiram?
51. Icare dicebat: pennas adspexitin undis
52. devovitque suas artes corpusquesepulcro
53. condidit, et tellus a nominedicta sepulti.
DieÜbersetzung ist so wörtlich wie möglich gehalten.
Daedalus, der inzwischen die Insel Kreta und die langeVerbannung haßte, und der berührt war von der Liebe zu seinem Geburtsort, wardurch das Meer eingesperrt. "Mag er", sagte er, "Länder undMeere (Wellen) versperren"; "aber der Himmel steht sicher offen; wirwerden dort gehen; Mag er auch alles besitzen, Minos besitzt nicht dieLuft."
Er sagte dies und richtet seinen Geist auf unbekannte Künste und schafftneue Natur (erneuert Natur). Denn er legt die Federn der Reihe nach hin, beider kleinsten angefangen, wobei immer einer langen eine jeweils kürzere folgt,so dass man glauben könnte, sie wären auf einer Anhöhe gewachsen. So stiegeinst die Panflöte allmählich mit unterschiedlichen Schilfrohren an.
Dann verbindet er alle Federn in der Mitte mit einer Leinenschnur und ganzunten mit Wachs, und biegt die so zusammengefügten Federn mit einer leichtenKrümmung, um echte Vögel nachzuahmen.
Der kleine Icarus stand dabei, und nicht wissend, dass er seine eigeneGefahr anfaßt, greift er bald mit freudestrahlendem Gesicht nach Flaumfedem,die ein vorüberziehender Lufthauch bewegt hatte; bald machte er mit dem Daumendas gelbe Wachs weich und behinderte das wunderbare Werk seines Vaters durchsein Spiel.
Nachdem die letzte Hand an das Unternehmen gelegt worden war, schwang derBaumeister selbst seinen Körper in die doppelten Flügel im Gleichgewicht hineinund schwebte in der bewegten Luft.
Er unterrichtet auch seinen Sohn, und sagt, "Ich ermahne dich, Icarus,dich auf mittlerer Bahn zu halten, damit, wenn du zu tief gehst, nicht dieWellen die Federn beschweren, und wenn du zu hoch fliegst, das Feuer sie nichtversengt. Zwischen beiden fliege! Ich befehle dir auch, nicht den Bootes, dengroßen Wagen oder das gezückte Schwert des Orion anzuschauen. Nimm deinen Weg untermeiner Führung." Zugleich gibt er ihm Flugvorschriften und paßt seinenSchultern die unbekannten Flügel an.
Zwischen der Arbeit und seinen Mahnungen wurden die greisen Wangen naß, undes zitterten die väterlichen Hände. Er gab seinem Sohn Küsse, die nichtwiederholt werden sollten. Und durch die Fedem erhoben, fliegt er voraus undfürchtet um seinen Begleiter, wie ein Vogel, der von seinem hohen Nest seinezarten Nachkommen in die Luft geführt hat, und er ermahnt ihn zu folgen undlehrt ihn verhängnisvolle Künste und bewegt selbst seine Flügel und schaut aufdie seines Sohnes zurück.
Diese sah jemand, während er mit zittemder Angelrute Fische fing, oder einHirte, der sich auf seinen Stab oder einen Bauer, der sich auf seinen Pflugstützte, und staunte und glaubte, dass solche, die ihren Weg durch die Lüftenehmen könnten, Götter seien.
Und schon war auf der linken Seite das der Iuno heilige Samos (sowohl Delosals auch Paros waren zurückgelassen worden) und auf der rechten Seite Lebinthosund das an Honig reiche Calymne, als der Knabe begann sich über den kühnen Flugzu freuen, sich von seinem Führer trennte und, angezogen durch die Begierdenach dem Himmel, einen höheren Weg nahm. Die Nähe der glühenden Sonne machtedas duftende Wachs, das Band der Federn, weich.
Das Wachs war geschmolzen. Jener schwingt die nackten Arme, und da erkeinen Flugapparat mehr hat, bekommt er keine Luft zu fassen, und sein Mund,der den väterlichen Namen ruft, wird durch das blaue Wasser aufgenommen, dasvon ihm seinen Namen bekam.
Und der unglückliche Vater – nun schon nicht mehr Vater – rief:"Icarus". "Icarus!" rief er. "Wo bist Du? In welcherRichtung soll ich Dich suchen?" "Icarus!" riefer. Da erblickte er die Federn in den Wellen, und er verfluchte seine Künsteund er barg den Körper in einem Grab; und die Erde wurde nach dem Namen desBestatteten benannt.
III. Meister Dädalus und Dichter Ovid
Dädalus hat zweicharakterliche Seiten, eine dunkle und eine lichte. Er stammte aus Athen undwurde nach Kreta verbannt, weil er seinen Neffen, der im Begriff war, ihn anKunstfertigkeit zu übertreffen, aus Neid getötet hatte. Diese Geschichte vonseinem menschlichen Versagen folgt in den Metamorphosen allerdings erst nachdem unglücklichen Ende seines Sohnes Ikarus. In der eigentlichen Geschichtegelingt es Dädalus, Flügel nach Vogelart für sich und seinen Sohn herzustellen,um sich mit ihrer Hilfe in die Luft zu erheben und aus Kreta über das Meer zufliehen. In Vers 201 wird er OPIFEX genannt und damit in Analogie zum Schöpfer der Welt unddes Menschen im 1. Buch, Vers 79 gesetzt. Da opifex nur an diesen beiden Stellender Metamorphosen vorkommt, will Ovid in Daedalus den Archetypus des Menschenals ein vollkommenes Abbild des Schöpfergottes darstellen. Denn nach OvidsSchöpfungsbericht wird der Mensch
nach dem Bild der alles (im richtigen Maß) ordnenden Götter geformt:
finxit in effigiem moderantum cuncta deorum (I, 83).
Der Mensch besitzt Erkenntnis,die ihn befähigt, Neues zu schaffen und so nach Gott ein zweiter Schöpfer (naturamquenovat) zusein.
Was die Tätigkeit menschlichenGeistes hervorbringt, dient einem Zweck, nämlich, für das Leben des Menschennützlich zu sein. Die Anwendung menschlicher Werke erfordert ebenso vielÜberlegung, Präzision und Sorgfalt wie ihr Hervorbringen. Hinzu kommen muß nochGewissenhaftigkeit, da die kreative Freude des Hervorbringens allmählich derSelbstverständlichkeit der Anwendung weicht.
Der Flug über das Meer ist einBild für die schwierige Bewältigung des Lebens. Es kann nur gelingen, wenn derMensch sich an die Gesetze hält, die der Schöpfer der Natur und ihm selbstgesetzt hat. Weicht er davon ab, verliert er das sittliche Gleichgewicht,stürzt ab oder nimmt schweren Schaden.
Indem Dädalus seinem SohnLehren erteilt, tritt er gleichsam an die Stelle des Schöpfergottes. Der Sohnhingegen wird zum Bild des unerfahrenen Menschen, der sich um die Gesetze, diesein Leben im Gleichgewicht halten, nicht oder zu wenig kümmert. Er erfreutsich der Schöpfungswerke und wendet sie an, ohne sich über Herkunft, Wesen undWirkweise genügend Rechenschaft zu geben.
Dädalus ist Vorbild für dieVerpflichtung des Menschen, gemäß seiner abbildhaften Natur wie Gott zu denkenund zu handeln. Denn in der Betrachtung der Werke Gottes erkennt der Menschsein Nichts einerseits und seine erhabene Berufung zur Teilhabe an GottesErkenntnis und Schöpferkraft andererseits.
Ikarus beachtet nicht dieWeisungen des Vaters und stürzt ab. Der unglückliche Vater ruft vergeblich nachihm und verwünscht seine Künste. In diesen beiden Vorgängen zeigt sich sowohleine göttlich-vollkommene als auch eine menschlich-unvollkommene Seite desDädalus. Auch Gott empfindet Schmerz über das Scheitern eines Menschen. DieSchuld dafür trägt der Mensch jedoch selbst, da er sich nicht an die Gesetze,Weisungen und Ratschläge Gottes gehalten hat.
Die menschliche Seite desDädalus zeigt sich darin, daß er das zu junge Alter seines Sohnes nicht bedachthat. Dädalus hat seinem erfinderischen Ehrgeiz zu früh nachgegeben. In einerwichtigen menschlichen Beziehung hat er das richtige Maß nicht beachtet.
In Dädalus schließlich schafftOvid sich ein Idealbild seines eigenen dichterischen Wirkens. Wenn Ovid alleseine Verse nach Zahl und Maß genau berechnet und geordnet hat, so hat ihn dieSage von Dädalus und Ikarus zu einem besonders vollkommenen Werk angetrieben.
Wenn sich Ovid aber mitDaedalus identifiziert, sollte man den Ausdruck devovitque suas artes (Z.52) in seinerDoppeldeutigkeit sehen. In positiver Hinsicht heißt die Übersetzung: und er weihteseine Künste den Göttern. Von der Sicht des Dädalus würde dies bedeuten, daß er seine Flugapparateohne demütige Übereinstimmung mit dem Willen der Götter angefertigt hat. Er hateigenmächtig gehandelt, seine Künste seinen eigenen Fähigkeiten zugeschriebenund sie nicht dankbar als ein Geschenk der Götter ausgeübt. Er bereut seinFehlverhalten und empfiehlt sich aufs neue den Göttern.
Ovid schließt sichgewissermaßen Dädalus an, indem er sich dessen Beispiel eine Warnung sein läßt,daß er in seinem dichterischen Tun und seiner Lebensführung nicht überheblichwird. Leider ist ihm das Unglück der Verbannung nicht erspart geblieben.
Am Ende der ersten Hälfteseiner Metamorphosen blickt Ovid zurück auf die Erschaffung des Menschen undzieht Bilanz, indem er sowohl die Größe als auch die sittliche Gefährdung desMenschen bedenkt.
Erstellt: Mai 2002
Letzte Änderung: 2017
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