Polen gedenkt des Warschauer Aufstands. 200.000 Menschen wurden getötet. Das Land wird bis heute davon geprägt – vom Schmerz über das erlittene Unrecht und Heldenstolz.
Von Claudia Thaler
Wenn um Punkt 17 Uhr in der polnischen Hauptstadt die Alarmsirenen ertönen, dann steht die Stadt für eine Minute still. Öffentliche Verkehrsmittel stehen genauso wie viele Autofahrer, Fußgänger warten andächtig. Der 1. August ist einer der wichtigsten Tage in der jüngeren Geschichte Polens. Dann wird der Erhebung gegen die deutschen Besatzer im Jahr 1944 gedacht.
Damals wurde die Stadt aus Rache für den Aufstand dem Erdbodengleichgemacht. Die Nazis sprengten und zerstörten Warschau systematisch, siebrannten Haus für Haus nieder. Die Niederschlagung des Widerstands war eines der schlimmsten deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, das sich nun zum 80. Mal jährt. Für die Menschen in Polen bedeutet der Aufstand Trauma und Nationalstolz zugleich. Die wichtigsten Fragen im Überblick:
Welche Bedeutung hat der Warschauer Aufstand?
Der Aufstand in Warschau hatte eine blutige Vorgeschichte.Nach dem Überfall im September 1939 durch die Deutschen wurde die Bevölkerung von den Besatzern terrorisiert. Einsatzgruppen von SS und Polizei ermordeten ZehntausendePolen und Polinnen, Hunderttausende wurden entrechtet.
Der 1. August 1944 ist daher das zentrale Datum, weil an diesem Tag um Punkt 17 Uhr der Warschauer Aufstand gegen die NS-Besatzer begann. Mit rund 40.000 Kämpfern war es die größte Widerstandsbewegung in den von den Deutschen besetzten Gebieten. Die Rebellion wurde ebenso brutal niedergeschlagen wie der Aufstand jüdischer Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto im Jahr zuvor. Nach 63 Tagen kapitulierten die Widerstandskämpfer des Warschauer Aufstands.
Allein in den ersten Tagen des Aufstands töteten SS-Einheiten im Stadtteil Wola Zehntausende Zivilisten – auch die Patienten, Ärzte und Pfleger in Krankenhäusern.
Am 2. Oktober 1944 gaben sich die Aufständischen schließlich geschlagen. Die deutschen Truppen machten Warschau anschließend als Vergeltung weitgehend dem Erdboden gleich. Insgesamt wurden während des Warschauer Aufstands knapp 180.000 Zivilisten und etwa 18.000 Widerstandskämpfer getötet. Rund eine halbe Million obdachlos gewordene Bürger und Bürgerinnen wurden vertrieben und mussten fliehen. Zehntausende Menschen wurden in Konzentrationslager deportiert oder mussten Zwangsarbeit verrichten.
Noch heute prägt der Aufstand das Selbstverständnis in Polen wesentlich– als Gründungsmythos des unabhängigen polnischen Nationalstaates und als Ereignis, das stark polarisiert. Einerseits wird der Heroismus der Aufständischen gefeiert. Aber schon damals "lehnten gar nicht so wenige den Aufstand ab und hielten ihn schlicht für ein Selbstmordkommando", schrieb der Berliner Historiker Stephan Lehnstaedt.
Wie ist der Aufstand verlaufen?
Eine polnische Untergrundarmee kämpfte gegen die Besatzer.Im Sommer 1944 schien die Zeit reif, um gegen die Unterdrücker vorzugehen. Bei ihrer Sommeroffensive 1944 war die Rote Armee an das östliche Weichselufer bis vor Warschau gerückt. Das war der Anlass für die rund 40.000 Soldaten der Armia Krajowa (Heimatarmee) unter Führung von General Tadeusz Komorowski, die Hauptstadt aus eigener Kraft zu befreien und damit das Symbol eines starken und unabhängigen Polen zu schaffen. "Es ist besser sich selbst zu befreien, alsbefreit zu werden" – das war die Devise des Befehlshabers der UntergrundarmeeTadeusz Komorowski. Hintergrund war, dass Polen seine Hauptstadt vor dem Näherrücken der Sowjetarmee wieder selbst kontrollieren wollte. So sollte die Sowjetunion nicht als Befreier Polens auftreten und in Folge unterwerfen können.
Doch die Heimatarmee war dürftig mit Waffen ausgerüstet: Nur jeder vierte Aufständische verfügte über eine Schusswaffe. In der Anfangsphase des Aufstands war die Heimatarmee zwar in einigen Teile der Hauptstadt erfolgreich, aber strategisch wichtige Objekte wie Brücken oder Bahnhöfe wurden nicht eingenommen. Die deutschen Einheiten gingen schnell zum Gegenangriff über.
63 Tage, also vom 1. August bis zum 2. Oktober 1944, halten die Aufständischen in den Straßen, Gassen und der Kanalisation durch. Dann kapitulieren sie vor der gewaltigen deutschen Übermacht. Zuvor schon hat die SS die Stadt von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten, es gab auch in den Krankenhäusern keine Medikamente mehr. Während und nach der Niederschlagung des Aufstands zogen SS-Truppen von Haus zu Haus und töten wahllos 150.000 polnische Zivilisten. Unzählige Frauen und Kinder wurden zuvor vergewaltigt. Anschließend legen die Machthaber die Stadt in Schutt und Asche.
Polnische Historiker gehen davon aus, dass die Rote Armee tatenlos zusah, wie die Nationalsozialisten den polnischen Widerstand niederschlugen. Die sowjetischen Soldaten erreichen die Stadt erst am 17. Januar 1945, als sie schon vollkommen zerstört ist.
Wie hat sich das Stadtbild von Warschau verändert?
Die Stadt lag nach der Niederschlagung westlich des Flusses Weichsel nur noch in Schutt und Asche. Rund 90 Prozent der Häuser waren komplett zerstört. Von den 1,2 Millionen Menschen, die vor dem Krieg in Warschau gelebt hatten, verschanzten sich noch einige Hundert in den Ruinen.Ein normales Leben war in der verwüsteten Stadt nicht möglich: Die zurückgekehrten Warschauer fanden nur unbewohnbare Ruinen vor, die Infrastruktur war komplett zerstört.
Der Wiederaufbau der Stadt erfolgte dann unter der kommunistischen Herrschaft, die aber einem historischen Wiederaufbau zunächst ablehnend gegenüberstand. Dennoch entschied sich die Führung nach dem Willen der polnischen Bevölkerung, die Altstadt am Weichselufer originalgetreu wiederaufzubauen. Der Architekt Jan Zachwatowicz führte den Wiederaufbau der Warschauer Altstadt durch, auch als Zeichen des Triumphes über die Nationalsozialisten. Mitte der Fünfzigerjahre wurde sie wiederhergestellt, 1980 wurde die Altstadt sogar in die Liste der Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen.
Der Wiederaufbau war in dieser Zeit jedoch auch durch die sozialistische Bauweise der Stalin-Ära geprägt. Das Zentrum der Stadt wird vom Kultur- und Wissenschaftspalast geprägt, auf Polnisch Pałac Kultury i Nauki. Er war ein "Geschenk" der ehemaligen Sowjetunion unter Diktator Josef Stalin, das 1955 fertiggestellt wurde. Das im Stil des sozialistischen Klassizismus gebaute Gebäude ist 237 Meter hoch und den sogenannten Sieben Schwestern in Moskau nachempfunden.
Heute wird der Kulturpalast – über den die Menschen in Warschau gemischte Gefühle haben – von modernen Wolkenkratzern überragt. Besonders seit der Jahrtausendwende und dem EU-Beitritt Polens wurden in der unmittelbaren Umgebung mehr als ein Dutzend gläserner Hochhäuser gebaut, die heute die Skyline Warschaus dominieren. Seit 2022 steht dort mit dem 310 Meter hohen Varso Tower das höchste Gebäude der EU.
Wie wird der Aufstand politisch wahrgenommen?
Heute ist der Warschauer Aufstand ein Symbol für den Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit Polens, jährlich wird mit Gedenkfeiern daran erinnert. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren deutsche Politiker dazu nicht eingeladen und unerwünscht, erst 1994 nahm Roman Herzog als erster deutscher Präsident an den Gedenkfeiern teil und hielt sogar eine Rede. 30 Jahre später wird auch Frank-Walter Steinmeier anwesend sein.
Die Zerstörungen und die enormen Verluste sind der Hauptgrund, warum Polen auch heute noch die Frage nach Entschädigung stellt. Die nationalkonservative Vorgängerregierung unter der PiS-Partei hatte in ihrer achtjährigen Regierungszeit Reparationen in Höhe von 1,3 Billionen Euro gefordert. Obwohl der neue Regierungschef Donald Tusk von dieser Forderung absieht, hatte in der Vergangenheit auch er von einer noch ausstehenden "moralischen, finanziellen und materiellen Wiedergutmachung" Deutschlands gesprochen. Das war auch Thema bei den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen im Juli. Wie genau dieEntschädigung den etwa 40.000 noch lebenden Opfern der deutschen Besatzung Polens gezahlt werden soll, war aber noch offen.
Mit Material von afp, KNA und dpa